Alber Elbaz’ persönlichstes Interview mit sich selbst
Wie lange war er jetzt eigentlich weg? Drei Jahre? Vier Jahre? Tatsächlich war es im Oktober 2015, als News die Runde machten, Alber Elbaz habe von seinem Arbeitgeber Lanvin die Kündigung erhalten. Ausgerechnet Elbaz, der das Pariser Modehaus mit so viel Schneiderkunst und liebevollen Details wieder zum Leben erweckt hatte, der sich mit dicker schwarzer Brille und Fliege und jeder Menge Karikaturen von sich selbst zum Kunstwerk machte und in Interviews so ehrlich und humorvoll auf Fragen antwortete wie kaum jemand sonst in der Modewelt. Lanvin hat sich von der Trennung bis heute nicht wirklich erholen können. Elbaz startete nun Ende Januar, nach ein paar einmaligen Designkooperationen, sein eigenes Label AZ Factory.
Es basiert auf Innovationen und Technologien und wurde aus dem sehnlichen Wunsch heraus geboren, Diversität und Inklusivität zu fördern. Von Schmuck bis Sneakers gibt es alles, was in den Kleiderschrank gehört. Das Spannendste ist die Größentabelle der Kleider, die von XXS bis XXXXL reicht. Kurz nach dem Launch auf Net-A-Porter waren es vor allem die „Randgrößen“, die nur noch in geringen Beständen verfügbar waren. Für Elbaz nicht nur der Beweis dafür, wie eine Modemarke im Jahr 2021 zu funktionieren hat, sondern auch ein Kompliment. „Dass ich auf Anhieb so viele unterschiedliche Frauen mit meinen Kleidern begeistern konnte, hat mich sehr berührt“, sagt er. Weil er die Dinge gern persönlich angeht, führt er auch dieses Interview mit sich selbst.
Alber, die Leute tun immer so, als hätten wir in den vergangenen fünf Jahren einen Trip zum Mond unternommen.
Dabei waren wir mehr denn je auf der Erde unterwegs, in Parks zum Spazieren und an Universitäten, um Mode zu unterrichten.
Wo wir übrigens diejenigen waren, die am meisten gelernt haben.
Über eine Generation, die schön ist von innen und von außen, weil sie mit so viel Ideologie an die Zukunft der Mode geht, mit viel mehr Ideologie als die Menschen in unserem Alter.
Und wir haben noch eine zweite Sache gelernt, nämlich dass das Fällen von Urteilen nicht unser Ding ist.
Wir haben uns ja selbst schon nicht gern beurteilen lassen. Das war eines unserer größten Probleme, als wir bei Lanvin noch so viele Kollektionen und Shows gemacht haben. Wir haben uns immer wie Kriminelle gefühlt, wenn Menschen nach einer Präsentation zu uns sagten, dass ein Rock von uns zu lang oder zu kurz sei, die Silhouette eines Ärmels nicht so richtig gut zur Jacke passe, ein Absatz zu hoch, zu flach, zu schmal, zu dick wäre – oder sogar ein Rot zu rot.
Was für eine Person richtig ist, mag für eine andere nicht richtig sein.
Deshalb ist es aber nicht falsch.
Weißt du noch, als wir durchs Unterrichten auch Jurymitglied von Design-Wettbewerben wurden?
Wir haben gesagt, dass wir das lieber sein lassen wollen, und haben angeboten, vor dem Finale zu kommen. Um den Student:innen zu helfen, um ihnen eine andere Perspektive anzubieten.
Nur eine andere, keine bessere.
Weil alles, was Designer:innen kreieren, stets auch ein Teil von ihnen ist.
Wie ein eigenes Baby?
Ein Produkt zu entwerfen ist wirklich fast so, wie ein Kind auf die Welt zu bringen. Zumindest in unserer Vorstellung, denn schwanger werden können wir ja nun nicht. Vollkommen klar aber ist, dass Eltern manchmal die Realität ihrer eigenen Kinder nicht sehen. Hin und wieder braucht es einen Babysitter, der ihnen sagt: Hey, dein Sohn oder deine Tochter könnte doch langsam auch einmal lernen, mit Messer und Gabel zu essen.
© Alber Elbaz
Wir dürfen unsere Recherchereise nach Palo Alto, Kalifornien, nicht vergessen. Da sind wir hin, um Ingenieur:innen und Erfinder:innen zu treffen, die unser Denken schlussendlich verändert haben.
Man hat für uns ein Dinner gegeben. Wir dachten erst, es würde fürchterlich werden, weil wir die Sprache der Menschen nicht sprechen. Am Ende war es fabelhaft. Es wird dort so viel über Menschlichkeit, Schönheit, Nachhaltigkeit und Design nachgedacht. Es geht um Fortschritt, um Innovation, um das Lösen von Problemen und nicht ums Wälzen von Problemen.
War es in all der Zeit, in der wir nicht in der Mode gearbeitet haben, auch manchmal langweilig?
Es gab viele Tage voller Langeweile, aber auch die Erkenntnis, dass Langeweile eine wichtige Zutat für Kreativität und fürs Nachdenken ist.
Wir haben wie Outsider auf die Modebranche geschaut.
Und versucht, das loszuwerden, wovon alle in der Mode viel zu viel haben: Ego. Unser Ziel wurde es stattdessen, etwas wirklich Bedeutungsvolles zu schaffen. Etwas, das alle Frauen einschließt.
Nennen wir es eine neue Art „Spanx“?
Kleider aus Stoffen, die Frauen umarmen, halten und supporten. Denn Supporten ist weitaus wichtiger als Pushen. Frauen, die XXXL tragen, sind wunderschön ohne Hunderte Lagen Stoff, die ihre Körper bloß kaschieren.
Ist es denn nicht völlig verrückt, dass es immer noch als Kompliment wahrgenommen wird, wenn man eine Frau fragt, ob sie abgenommen hat?
Es ist einfach falsch. Über Körper wird viel zu wenig ehrlich gesprochen. Es heißt immer, in der Welt von heute gehe es um Transparenz und um ein Umdenken. Aber ist den Leuten eigentlich überhaupt klar, was Transparenz und Umdenken bedeuten? Die Welt ist eher voller Lügen und nicht voller Liebe.
Wir sind selbst mehrgewichtig.
Und um andere Menschen überhaupt lieben zu können, mussten wir zunächst einmal uns selbst lieben lernen.
© Alber Elbaz
Die Arbeit an den Kleidern war wirklich alles andere als einfach.
Aber nicht nur wegen uns selbst, sondern auch weil das richtige Garn gefunden werden und der Stoff und die richtigen Schnitte entwickelt werden mussten. Außerdem wollten wir einen Reißverschluss am Rücken der Kleider anbringen, den Frauen bequem selbst schließen können, damit sie keine Hilfe von jemand anderem mehr dabei brauchen. Und Bügel, die beim Kleid eigentlich vorn sitzen, haben wir nach hinten gelegt, für eine bessere Körperhaltung.
Und dann war da auch noch Corona.
Das ganze Arbeiten mit der Maske, hinter Glas und mit Desinfektionsmittel, obwohl man als Designer:in eigentlich daran gewöhnt ist, alles anfassen und überall nah rangehen zu können. Lieferungen kamen zu spät, Termine konnten nicht stattfinden. Alles dauerte länger als früher.
Sind wir jetzt glücklich mit unserem Neugeborenen AZ Factory?
Überglücklich, aber, um mal beim Bild der Geburt zu bleiben: Wir lagen ganz schön lange in wirklich heftigen Wehen.
Wann kam uns Mode als eine Sache für unsere Zukunft eigentlich zum ersten Mal so richtig in den Sinn?
Da waren wir noch sehr klein. Mit zwei oder drei Jahren staksten wir zu Hause in den Kleidern und High Heels unserer Mutter herum, sehr zur Freude unserer Geschwister. Mit fünf Jahren fingen wir an, Frauen zu malen. Keine Mode. Nur Frauen – Prinzessinnen und Königinnen und elegante Damen, dabei, wie sie einen Tag in der Stadt verbrachten.
Stell dir vor, wir könnten noch einmal ganz von vorn beginnen: Würden wir wieder Designer werden?
Kein Zweifel, das würden wir nicht.
Was dann?
Arzt. In der Mode sagen sie einem, man ist immer nur so gut wie die nächste Kollektion. In der Medizin geht es um Langlebigkeit.
Aber wir sind Hypochonder!
Natürlich sind wir das. Aber ein Familienarzt zu sein wie der Mann von Madame Bovary, ein Arzt für ein ganzes Dorf, das wäre ein Traum.
Welchen Rat würde uns unser 18-jähriges Selbst geben?
Es würde uns sagen, dass wir ein bisschen mehr Sport machen könnten und unbedingt Medizin studieren sollten.
Warum ist Medizin eigentlich so ein wichtiges Thema für uns?
Ein guter Freund, der Arzt ist, hat uns mal folgende Frage gestellt: Wenn Menschen sich heute ihre eigenen Körper kaufen können, etwa mit speziellen Workouts oder plastischer Chirurgie, wenn der Körper also eigentlich das neue Kleid ist, was ist dann die Aufgabe eines Designers? Den Körper zu enthüllen oder zu verdecken?
Das ist keine einfache Frage.
Nicht alles braucht eine Antwort.
Was inspiriert uns?
Worte. Wer schreibt und spricht, arbeitet nur mit dem Kopf und ohne Spezialeffekte wie etwa Designer:innen, die auf alle möglichen Textilien, Farben und Stickereien zurückgreifen können. Wer die richtigen Worte findet, ist ein Künstler. Bilder inspirieren uns eher weniger.
Und Vintagemode überhaupt nicht.
Vintagemode ist so deprimierend, weil sie so phantastisch und wunderschön ist, dass wir sie nie im Leben noch einmal so hinbekommen würden. Neben ihr fühlen wir uns einfach so klein. Außerdem sollte es bei Mode immer um das Hier und Jetzt gehen. Als das Atelier von AZ Factory eröffnet wurde, sind wir nicht umsonst vorher auf den Flohmarkt gegangen, haben dort ein altes Paillettenkleid gekauft, es in die Mitte des Raums gestellt und ein Schild drangehängt, auf dem stand: „No Vintage, please!“
Alber, warum tragen wir eigentlich so gern Fliegen?
Schau doch nur mal, wie schön sie unser Doppelkinn umrahmen!