Und auch das auf Fleisch spezialisierte Restaurant Bryanskiy Byk bekommt vier Sterne, die mit Politik statt mit seinen Steaks zu tun haben: »Liebes russisches Volk. Bitte geht auf die Straße und protestiert, um den Krieg zu stoppen. Wir wissen, dass es nicht einfach ist, da ihr in einer Diktatur lebt, aber sie können nicht alle von euch aufhalten.«
Der tatsächliche Effekt ist schwer einzuschätzen
Viele Internetnutzer, die sich an der digitalen Protestwelle beteiligen, wollen mit ihren als Rezensionen getarnten Appellen die russische Zivilbevölkerung erreichen und aufrütteln. Ob das praktisch gelingt, ist fraglich. So hat Google in Russland mit Yandex einerseits einen populären lokalen Konkurrenten. Und anderseits zeigt Google Maps bei Restaurant-Rezensionen standardmäßig als Erstes jene Bewertungen an, die der Dienst für besonders relevant hält – nicht die zuletzt veröffentlichten, also in diesem Fall die aus dem Ausland stammenden Botschaften gegen den Krieg.
Auf Plattformen wie Twitter und Reddit geben sich Nutzer vor diesem Hintergrund Tipps, die helfen sollen, dass ihre Bewertungen online bleiben. So rät man sich gegenseitig, lieber fünf Sterne als nur einen zu geben, damit die betroffenen Restaurants sich nicht über die neuen Bewertungen ärgern und sie Google melden. Ebenso empfehlen sich Nutzer Tools wie DeepL, mit denen sich eigene Texte ins Russische übersetzen lassen.
Präzedenzfälle gibt es auch bei politischen Themen. Im November 2016 etwa nahmen Trump-Gegner dessen Wahlsieg in den USA zum Anlass, um Hotels mit dem Namen des Unternehmens negativ zu bewerten. Und selbst im Zuge der Proteste in Belarus 2020 wurden Google-Bewertungen als Protestmittel eingesetzt. Ein Untersuchungsgefängnis in Minsk, in dem Regierungskritiker gefoltert wurden, erhielt laut »Human Rights Watch« Bewertungen wie: »Der Ort ist so lala. Die Beine wurden geschlagen (…), aber aus irgendeinem Grund sind sie nicht gebrochen. (…) Außerdem sind die blauen Flecken im Gesicht in nur zehn Tagen statt in zwei Wochen verschwunden.« Der Kommentar steht bis heute online.
Warum Kritiker von Putins Invasion derzeit ihre Zeit in Kommentare stecken, die das gewünschte Zielpublikum vielleicht nie zu sehen bekommt, ist leicht nachvollziehbar: Der Krieg in der Ukraine macht vielen Menschen Angst und sie wollen nicht nur hilflos zuschauen. In dieser Situation scheint im Zweifel sogar das Abgeben einer womöglich bald gelöschten Google-Bewertung sinnvoller als Nichtstun. Die eigene Aktivität im Netz übertüncht das Gefühl der Ohnmacht, erst recht, wenn Menschen gemeinsam agieren, wie hier unter dem Banner von Anonymous.
Die Idee für die Bewertungsaktion stammte diesmal offenbar von einem Twitter-Nutzer, der seinen Account in Polen verortet. »Gib ihnen 5 Sterne!«, schrieb »Konrad03249040« am Montag. »Ich bin kein Hacker, aber ich tue, was ich tun kann.«
Betroffen sind von den politisch aufgeladenen Rezensionen nicht nur Gastronomen und Unternehmer in Russland. Auch bei den Bewertungen deutscher Restaurants mit Russland-Bezügen im Namen hat sich seit dem Anonymous-Aufruf einiges getan. »Jeder Tropfen Blut, jedes tote Kind ist eure Schande!!! Buchstäblich die ganze Welt verurteilt euch«, schreibt etwa ein Nutzer zum Restaurant Paris Moskau in Berlin und vergibt einen Stern.
Und sowohl an das Bistro Moskau in Gießen als auch an das Café Moskau in Chemnitz hat jemand die gleiche Botschaft: »Das Essen war super! Tolle Gastgeber! Aber Putins Krieg in der Ukraine hat mir den Appetit verdorben.« Dazu verteilt er jeweils fünf Sterne.