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Dick sein, oder: Bekenntnisse eines “gefährlichen” Körpers | Vogue Germany

Der siebte Teil von “(Un)erwachsen”, der VOGUE-Kolumne von Lisa Ludwig

Über den Jahreswechsel habe ich ziemlich viel Zeit vor dem Handy verbracht. Allein schon deswegen, weil der Mitteilungsdrang aller Menschen, mit denen ich auf diversen Social-Media-Plattformen verbunden bin, ins Unermessliche gestiegen ist. Doch egal ob sie alleine gefeiert haben oder mit der Familie oder gar nicht, egal was sie sich für 2021 vorgenommen haben oder wünschen, eine Gemeinsamkeit scheinen sehr viele von ihnen zu haben: Die Angst, durch den Lockdown mit seinen geschlossenen Fitnessstudios und durch die Feiertage so richtig viel zugenommen zu haben.

Natürlich steht da nicht “Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als fett zu sein!” in ihrem Status. Sie posten Memes oder Sprüchebilder mit riesigen Wänsten, aufspringenden Knopfleisten oder dramatischen Diätankündigen. Darunter sammeln sich Lachsmileys mit tränenden Augen, lauter “Oh man, du solltest mich mal sehen!”-Kommentare oder das Versprechen, demnächst wirklich (wirklich!!) mal zusammen Joggen zu gehen.

Ich habe schon als Kind gelernt, dass mein Körper nicht mir gehört, sondern zur öffentlichen Diskussion freigegeben ist.

Vielleicht fehlt es mir an dem, was Mario-Bart-Anhänger “hUmOr” nennen, aber: Ich finde das nicht so witzig. Denn was da zum größtmöglichen Albtraum hochstilisiert wird, ist ein Körper wie meiner. Menschen, die mir schon tausendmal ins Gesicht, auf die speckigen Oberarme und die ausladenden Oberschenkel geguckt haben, Menschen, bei denen ich davon ausgehe, dass sie mich mögen, finden Personen wie mich so abstoßend, dass sie ihrer Panik vor einem ähnlichen Schicksal mit schlechten Witzen Luft machen müssen.

Natürlich überrascht mich das nicht. Ich habe schon als Kind gelernt, dass mein Körper nicht mir gehört, sondern zur öffentlichen Diskussion freigegeben ist. Denn ich bin dick, nein, fett. “Morbidly obese” sogar, was ironischerweise mehr nach aufregender Käsesorte als nach körpergewordener Antithese zum Optimierungswahn unserer Gesellschaft klingt. Komplimente empfinde ich als Mitleid. Wenn ich noch einmal hören muss, dass ich doch “ein schönes Gesicht” habe, höre ich nie wieder auf zu schreien. Wer mich mag, versucht die Tatsache totzuschweigen, dass ich dick bin. Andere tun nichts lieber, als mich darauf hinzuweisen.

Die immer präsente Meinung der anderen

Wildfremde Menschen auf der Straße, der Google-Algorithmus, der mich seit Jahren ungefragt mit personalisierter Abnehm-Werbung auf mein stetig wachsendes Bauchfett hinweist… Sogar Verwandte erzählten sich hinter vorgehaltener Hand, dass ich ja “so ein schönes Kind” war, dass ich aussah “wie eine Puppe”. So klug, so schön, und alles, was davon übrig geblieben ist, ist eine dicke, depressive Frau, die sich im Internet darüber beschwert, wie gemein die Welt ist. Mein Leben, die große Enttäuschung für alle anderen. Ich denke sehr oft darüber nach, was ich hätte werden können, wenn ich anders aussähe. Vielleicht sogar glücklich.

Ab der fünften Klasse habe ich nur noch auf den Boden vor mir gestarrt, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewegt habe. Jeder Blickkontakt hätte andere dazu provozieren können, mich zu beleidigen. Manchmal waren die besten Tage in der Schule die, an denen niemand mit mir gesprochen hat. Ich hätte sehr viel dafür gegeben, damals Frauen wie Lizzo in den Medien zu sehen. Dicke Menschen, die bewunderns- und begehrenswert sein dürfen, und nicht nur deswegen im Fernsehen sind, weil sich ja über irgendwen lustig gemacht werden muss.

Ich hätte sehr viel dafür gegeben, damals Frauen wie Lizzo in den Medien zu sehen.

Bis heute werde ich nervös, wenn ich ohne Kopfhörer das Haus verlasse. Ich muss die Welt ausblenden, denn die Welt hat eine Meinung zu meinem Körper. Mittlerweile kann ich zwar besser damit umgehen, entkommen kann ich dieser ungefragten Diskussion über meinen Körper trotzdem nicht.

Fatphobia im Netz: Ganz ungefiltert beleidigen

An irgendeinem Morgen im vergangenen Jahr. Ich bin übernächtigt und fühle mich ein bisschen schwindlig. Es ist 11 Uhr, ich habe noch nichts gegessen, und starre mit glasigen Augen auf zwei Bildschirme. Auf dem einen Bildschirm die Person, mit der ich mich gerade im Rahmen einer Live-Sendung unterhalte. Darüber der Chat. Menschen schreiben ungefiltert, wie sie das gerade alles so finden. Wie sie mich finden. Fehler Nummer Eins. “Ist das Cindy aus Marzahn?” fragt einer. Im Gegensatz zu mir bleibt er gesichtslos, ein Pseudonym inmitten der stetig fließenden Buchstabenkotze, die Diskurse im Internet sind. “Dick und doof” kommentiert ein anderer. Wer davon ich sein soll, ist mir absolut klar.

Ich nehme tiefe Schlücke aus meinem Kaffeebecher, und versuche dabei, den Bauch noch mehr einzuziehen. Ein unmögliches Unterfangen. Ich versuche, lustig und sympathisch zu sein, ein verzweifelter Versuch, die anonymen Personen hinter den Chatnachrichten davon zu überzeugen, dass ich kein absurder Internet-Avatar, sondern ein echter Mensch mit echten Gefühlen bin. Fehler Nummer Zwei. Sie beleidigen mich schließlich nicht, weil sie meine Art nicht mögen. Sie beleidigen mich, weil sie mich nicht attraktiv finden – nach wie vor eine der größten Sünde, die man als Frau begehen kann.

Seit ich denken kann, fungiert “Die ist fett” als ultimative Kritik an mir. Wenn Menschen “normal” aussehen, kann man wirklich darüber reden, was und wie sie es tun. In meinem Fall muss sich erst am Elefanten im Raum abgearbeitet werden. Und der Elefant bin ich.

Sie beleidigen mich, weil sie mich nicht attraktiv finden – nach wie vor eine der größten Sünde, die man als Frau begehen kann.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was sich Leute von diesen “Du bist fett!”-Momenten erwarten. Dass ich die Hand auf die Brust lege, in einem Louis-des-Funèsschen Moment der überzeichneten Überraschung laut “Nein!” rufe und mich für diesen bahnbrechenden Hinweis bedanke? Dass ich schluchzend zusammenbreche und ihnen in der Einschätzung zustimme, dass ich ein wirklich widerlicher Mensch bin, den niemand angucken möchte? Oder geht es dann doch nur einfach darum, dass ich den Kopf senke, die Fresse halte und mich so klein und unsichtbar mache wie nur irgendwie möglich, damit mehr Platz für die Frauen ist, zu denen sich die Twitch-Followerschaft im Kinderzimmer regelmäßig einen runterholt? Hah, unsichtbar. Allein die Vorstellung!

Scheiße sein ist eine Entscheidung. Entscheidet euch anders.

Ich dachte immer, ich würde gerne mal mit so einer Person sprechen, die es für angemessen hält, mir vorzuhalten, wie widerlich ich in ihren Augen aussehe. Mittlerweile weiß ich es besser. Ich habe keine Lust auf Rechtfertigungen und Beteuerungen, dass das alles nur Spaß sei. Hat jemand gelacht außer dir und deinen dümmlichen Freunden, Arschloch? Nein? Dann war’s wohl nicht so witzig. Ich will keine tragische Origin-Story hören, die die Beleidigungen rechtfertigen soll. Ist mir scheißegal, ob diese Person auch gemobbt wurde, ein schreckliches Leben hat, nur noch etwas fühlt, wenn sie einem anderen Menschen jegliche Unbeschwertheit nimmt. Scheiße sein ist eine Entscheidung. Entscheidet euch anders.

Kürzlich bin ich beim Scrollen durch Instagram auf ein Video der Userin “bootlegmegz” gestoßen, dessen Kernaussage ich mir gerne auf ein Shirt drucken würde:

“Ich weiß nicht, was Leute sich als Reaktion erwarten, wenn sie jemanden als ‘fett’ bezeichnen. Sie sagen es, als würden sie einem einen Speer ins verdammte Herz stechen: ‘Du bist fett!’ Ja??? Herzlichen Glückwunsch dazu, dass du Augäpfel hast, Bitch. Ich war schon in diesem Körper, bevor du ihn gesehen hast.”

Mein Körper ist kein Tempel, mein Körper ist eine Lagerhalle für Trauma. Aber ich will mich nicht länger von anderen dazu zwingen lassen, mich zu hassen. Viele behaupten, ihre Fettfeindlichkeit sei nur der Versuch, dicke Menschen zu einem gesunden Leben zu verhelfen. Denn Übergewicht, das haben sie mal gegoogelt, ist ungesund. Ich bin zwar keine Medizinerin, mir bei einer Sache dann aber doch ziemlich sicher: Wenn etwas ganz bestimmt nicht gesund ist, dann ist es Selbsthass.

Mein Körper muss überhaupt nicht schön sein

Ich will nicht irgendwann in meinen letzten Atemzügen liegen, auf mein Leben zurückblicken und feststellen, dass ich den Großteil meiner Zeit damit verschwendet habe, mich selbst zu verabscheuen. Ich bin seit meinem sechsten Lebensjahr chronisch krank, mein Körper und ich haben schon mehr miteinander durch, als sich der Großteil der nebenberuflichen Social-Media-Trolle überhaupt vorstellen kann. Mein Körper muss überhaupt nicht schön sein. Er hat Dinge überlebt, an denen ich vor 100 Jahren wahrscheinlich noch gestorben wäre. Wir mögen keine einfache Beziehung haben, aber mein Körper ist mein bester Freund. Ich bin untrennbar mit ihm verbunden, ich liebe ihn für das, was er ist, weil er mein Körper ist. Und niemand hat das Recht, mir einzureden, dass das falsch ist.

Oder um es mit bootlegmegz zu sagen: Ich war schon in diesem Körper, bevor du ihn gesehen hast, Bitch.

Die weiteren “Unerwachsen”-Episoden von Lisa Ludwig bei VOGUE

Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne “(Un)erwachsen” widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch.